99. Gedenktag für die Opfer des Völkermords

 

PD Dr. Sefik Tagay,

 

Vorsitzender der Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen (GEA) e.V.

 

 

 

Grußwort zum 99. Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern (Bochum, 26.04.14)

 

 

 

Verehrte Damen und Herren,

 

liebe Freunde,

 

durch den modernen Nationalismus hat es im 20. Jahrhundert so viele Genozide und Verbrechen gegen die Menschheit gegeben wie in keiner anderen Zeit der Menschheitsgeschichte.

 

Der Holocaust, der Plan der totalen Vernichtung des gesamten jüdischen Volkes durch die Nationalsozialisten, hat gezeigt, wie vernichtend und menschenverachtend der moderne totalitäre Nationalismus ist. Besonders die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Zeit des Schreckens und des Verbrechens gegen die Menschheit, die in der systematischen Vernichtung von Völkern während der beiden Weltkriege gipfelte. Ich möchte nur kurz einige der zahlreichen Genozide aufführen, die in Mesopotamien erfolgten:

 

Am 19. Mai 1919

 

begann für die griechisch-orthodoxe Bevölkerung die dritte und abschließende Phase ihrer Vernichtung und dauerhaften Vertreibung aus der Schwarzmeerregion (Pontos) und dem übrigen Kleinasien im Osmanischen Reich.

 

Vom 7.-11. August 1933

 

fand in der nordirakischen Kleinstadt Simele das Massaker an Assyrern, Aramäern und Eziden durch irakische Regierungstruppen statt. Simele steht als Inbegriff für den Genozid an aramäischsprachigen Christen und Eziden, der bereits 1914 in den nordirakischen Bezirken Dohuk und Mossul seinen Anfang nahm.

 

 

 

Am 4. Mai 1937

 

begann mit der Festnahme der spirituellen Elite die Vernichtung der Alewiten in Dersim durch die türkische Regierung.

 

 

 

Am 24. April 1915

 

begann mit der Massenfestnahme von Armeniern in der Hauptstadt Konstantinopel der Genozid am ältesten christlichen Volk dieser Erde. Binnen dreier Tage wurden hunderte Intellektuelle wie Lehrer, Dichter und Schriftsteller, Journalisten, Parlamentsabgeordnete, Geistliche und Unternehmer festgenommen, in das Landesinnere deportiert und schließlich hingerichtet. Todesmärsche und massenhaftes Morden folgten in den anschließenden Jahren.

 

Es ist eines der dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkrieges und eine der größten Katastrophen in der Menschheitsgeschichte: „Aghet“, der Begriff, den Armenier für die „große Katastrophe“ verwenden. Aramäisch-assyrische und griechische Christen und Eziden waren zusammen mit den Armeniern Opfer dieser schrecklichen Geschehnisse.

 

Wie Sie wissen, haben sich Christen und Eziden in dieser schrecklichen Zeit der Genozide immer gegenseitig unterstützt und geholfen. Eziden versteckten verfolgte Armenier in ihren Häusern und nahmen besonders in ihrem Ballungszentrum im Nordirak, Shingal (Sindschar), viele tausend christliche Flüchtlinge bei sich auf. Tausende Eziden wurden während der Genozide in Mesopotamien massakriert und flüchteten entweder nach Shingal oder zusammen mit den Christen in die Nachbarländer, insbesondere nach Georgien und Armenien. Trotz dieser Unterstützung ist das Ezidentum, eine der ältesten Religionen der Welt, heute existentiell bedroht und in vielen Ländern noch immer Ziel religiöser Verfolgung.

 

Gedenken ist ein wesentlicher Prozess für die Hinterbliebenen und für die Erben des Vermächtnisses des Genozids. Es ist ein Prozess, um dem unfassbaren Schrecken und dem großen Verlust einen Sinn abzugewinnen. Die Erinnerung hilft zu trauern. Die Erinnerung hilft auch, die eigene Identität zu schärfen und Leiden zu verarbeiten.

 

Deshalb ist es dringend notwendig, die Erinnerung an vergangenes, heute bei vielen Außenstehenden vergessenes, Unrecht und Leid lebendig zu erhalten; durch Gedenktage, durch Veranstaltungen wie die heutige. Ich spreche heute zu Ihnen als Vorsitzender der Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen (GEA) und befürworte und unterstütze ausdrücklich eine offene und vorurteilslose Erörterung dieser schrecklichen Geschehnisse, in der Hoffnung, dass endlich alle Länder dieser Erde den Völkermord an den Armeniern aussprechen und anerkennen!

 

Die Aufarbeitung der vielen Menschheitsverbrechen ist nicht nur eine Sache zwischen den Opfern und Tätern, sondern eine Angelegenheit, die die gesamte Menschheit betrifft. Denn auch nach dem Völkermord an den Armeniern sind bis heute viele weitere Millionen Menschen schrecklichen Verbrechen dieser Art zum Opfer gefallen und leider wird der gezielte Mord an bestimmten Gruppen und Kollektiven auch zur Gegenwart und Zukunft gehören. Leugnen und Schweigen sind der Grund für diese zu befürchtende Prognose, da ein solches Verhalten Menschen nicht zusammenbringt, jedoch immer größeres Misstrauen sät und in gegenseitigem Hass endende Ablehnung fördert. Leugnen und Schweigen verbergen das Gesicht nicht vor der Wahrheit, sondern behindern ein friedliches Miteinander.

 

 

 

Wir plädieren dafür, in jedem Land dieser Erde Genozid-Gedenkstätten und Genozid-Denkmäler errichten zu lassen. Sie gehören zum Weltwissen und sollten fest im Menschheitsgedächtnis etabliert werden. Nur so können wir Weltoffenheit, Mitgefühl, Liebe und damit ein Miteinander fördern. Diese Genozide an der Menschheit sollten in alle Geschichtsbücher aufgenommen werden, damit sie eine ständige Mahnung für die nachfolgenden Generationen darstellen. Erinnerung ist notwendig!

 

Den vielen Millionen Opfern nicht zu gedenken, beschädigt das geschichtliche Gedächtnis der Menschheit überhaupt. Schweigen und gar Verleugnen sind keine Grundlage für Frieden und Freiheit, für Vergebung und Versöhnung.

 

Die Zeit heilt nicht alle Wunden, erst recht nicht, wenn Verantwortung nicht übernommen, Schuld abgestritten und die Tatsache des Genozids gar nicht erst anerkannt wird. Die Vergegenwärtigung der Verbrechen der Vergangenheit kann uns helfen, den Wunden der Gegenwart besser zu begegnen. Dann erst kann der Prozess der Versöhnung und Vergebung beginnen.

 

Es ist erfreulich zu sehen, dass in der Türkei die Bereitschaft wächst, sich kritisch mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen und mit der Politik der Verleugnung zu brechen. Das ist ein Anfang. Das ist ein gutes Zeichen!

 

Der Versöhnungsprozess zwischen Deutschen und Juden ist ein gutes Beispiel, wie es gelingen kann, das destruktive Gegeneinander durch einen Prozess des Miteinanders zu ersetzen. Seit einigen Jahren gibt es erste Ansätze für einen Dialog zwischen dem armenischen Volk und dem türkischen Volk. Wir begrüßen diesen Prozess der Versöhnung zwischen beiden Völkern.

 

Die Gefahr der Missachtung menschlicher Würde und der grausamen Verletzung von Menschenrechten ist immer und überall auf der Welt gegeben. Wir Menschen dürfen uns niemals zurücklehnen und die naive Haltung einnehmen, dass der Weltfrieden und die Freiheit eines jeden Menschen gesichert sind. Nein, wir müssen wachsam die Menschenrechte aller, unabhängig von Volkszugehörigkeit und Religion, schützen und würdigen; immer und überall auf der Welt.

 

In diesen Tagen, in denen negative Bilder, Vorurteile, und menschenverachtendes Gedankengut das Denken und Verhalten extremer Gruppierungen bestimmen, stehen wir wieder am Rande eines Krieges. Der fanatische Nationalismus ist wieder im Kommen. Mit Sorge beobachten wir die Unruhen in der Ukraine. Wir müssen alles dafür tun, wachsam zu bleiben, um menschenverachtendes Gedankengut und Diskriminierung von religiösen Gruppierungen, Minderheitengruppen und Ethnien zu erkennen und dagegen vorzugehen. Die Gefahren eines Krieges in Europa sind real wie lange nicht mehr.

 

Liebe armenische Brüder und Schwestern, wir teilen mit Euch den großen Schmerz mit den Angehörigen und Nachkommen der Opfer. Wir teilen mit Euch Trauer und Betroffenheit und wünschen Euch Gottes und Tausi Meleks Segen und Kraft. Mit unserer Solidarität könnt Ihr jederzeit und überall rechnen.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

 

 

 

 

 

PD Dr. Sefik Tagay

 

Vorsitzender der Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen (GEA)

 

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